Evangelikale Theologie und Relativitätstheorie

Es war eine höchst spannende Zeit, in der die ersten Freikirchen in der Schweiz gegründet wurden. Fortschritt, steigende Lebenserwartung, Bildung für alle und damit eine grosse Freiheit für jeden Menschen; das waren Themen, die die Menschen im 19. Jahrhundert bewegten. Die Evangelikale Theologie, die sich in diesem Umfeld entwickelte, hatte ein paar ganz geniale Antworten auf diese neuen Verhältnisse: Dass sich alle selber eine Meinung machen sollen, dass Glaube auch eine persönliche Entscheidung ist und dass man durchs Bibellesen schon selber auf die richtigen Antworten kommt, ohne dabei auf Autoritäten angewiesen zu sein. Dazu der Gedanke, dass sich Glaube im Hier und Jetzt bewähren muss, dass da was im eigenen Leben sichtbar sein soll und dass das auch Auswirkungen für Menschen in Not hat. Waisenhäuser, Spitäler und Schulen wurden gegründet. Und das an Orten in dieser Welt, wo damals sonst wohl keiner freiwillig hingegangen wäre. Natürlich gab’s das auch in den anderen Kirchen, und natürlich war nicht alles perfekt. Aber man darf das auch mal laut sagen, dass die Linie vom Pietismus über die Erweckungs- und Heiligungsbewegung eine ganz kraftvolle Strömung mit ganz viel Gutem für viele Menschen bedeutet. Ein Geschenk an die Welt!

Darum bin ich auch mit Wonne evangelikaler Christ und Pastor eine Freikirche mit Wurzeln bis 1848. Im Wissen um Einseitigkeiten und Schwächen bin ich gerne da dabei und setz mich ein. Eine dieser Schlagseiten evangelikaler Theologie möchte ich jetzt mal ins Visier nehmen. Es geht um die Vorstellung von Zeit. 1830 war da noch ganz viel Newton: Zeit ist Konstant. Eine feste Grösse die in eindeutig messbaren Abständen verrinnt. Ein unabänderliches Naturgesetz halt. Dann kam Einstein. Zu einer Zeit, wo die Freikirche, in der ich heute arbeite, gerade einen Aufbruch erlebte, entwickelte er praktisch in derselben Altstadtgasse Berns seine spezielle Relativitätstheorie. (Hier eine Erklärung von Prof. Ganteför für Laien). Zeit war dann nicht mehr konstant, sondern relativ. Die damaligen Mitglieder meiner Kirche sind mit grosser Wahrscheinlichkeit Einstein auf der Strasse begegnet. Schade, sind sie offenbar zu wenig mit ihm ins Gespräch gekommen.

Ich stell mir vor, wie das wäre, wenn sie’s doch getan hätten und Einstein in ein Berner Café eingeladen hätten. Vielleicht hätten sie ihm aus Psalm 90 oder dem Petrusbrief vorgelesen, wo steht: „Ein Tag ist wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag“ „Genau das mein ich!“, hätte Einstein vielleicht darauf geantwortet und sich lachend auf die Schenkel geklopft.

In meiner theologischen Ausbildung an der STH Basel besuchte ich die Vorlesungen von Samuel Külling zum ersten Mosesbuch. Ich habe übrigens Külling geschätzt und in seiner kernigen und unverwüstlichen Art ist er mir sehr lieb geworden. Aber in seinem Beharren auf einem Schöpfungstag von 24 Stunden spürte ich ich im Nachhinein ganz viel Newton-Physik und wenig von Einsteins Relativitätstheorie. Dieser Mega-Umbruch im Verständnis von Zeit war noch gar nicht angekommen. Dabei bietet doch gerade der Schöpfungsbericht Anknüpfungspunkte. Als erstes schafft Gott Licht. Von Einstein wissen wir, dass bei Lichtgeschwindigkeit die Zeit stehen bleibt. Dann als Zweites, dass die Bestimmung eines Erdentages mit Sonne und Mond erst am vierten Tag kommt. Da laufen also zwei Drittel der Schöpfung ohne unser Konzept von einem Tag ab.

Damit ist dem Bibeltext in meinen Augen kein Schaden geschehen. Im Gegenteil für mich erweist sich der Text eben gerade darum auch als inspiriertes Wort Gottes, weil ich ihn mit einer Brille von 1830 und mit eine Brille von 2017 anschauen kann und beide Male faszinierende Schönheit entdecke.

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Bild: Wikimedia.commons: Public domain – Georg Müller und Albert Einstein

 

 

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