Zwei Bäume

Ein eisiger Wind schüttelt die alte Fichte. Ein Zapfen löst sich und zerschellt auf einer flachen Felsplatte. Durch die Wucht des Aufpralls werden zwei Samen hoch in die Luft geschleudert und vom starken Wind davon getragen. Ein ganzer Tag und eine ganze Nacht lang wirbeln die beiden Samenkörner durch die Luft. Das eine Korn in Richtung Süden und das andere in Richtung Norden. In den frühen Morgenstunden fallen sie endlich auf ein Stück fruchtbaren Boden. Gerade noch rechtzeitig vor dem ersten Schnee, der die beiden zudeckt und bis nächsten Frühling schlummern lässt.

Unter der wärmenden Frühlingssonne beginnt der Fichtensamen zu spriessen. Er treibt seine Wurzeln in das weiche Erdreich und drückt langsam den Kopf in die Höhe. „Hey, willkommen Kleiner!“, spricht ihn eine Stimme an und fährt fort: „Machst du auch mit, wir spielen Schmetterling-Entdecken. Wer zuerst einen Neuen sieht, hat gewonnen.“ „Ehm ja, hallo erst mal…“ stottert der Kleine seine ersten Worte. Er wird nicht gehört. Neben, hinter und vor ihm schreien junge Fichtenstimmen: „Dort, ein Schmetterling, ich habe ihn zuerst gesehen!“ Offenbar ist unser Fichtensame mitten in eine Saat einer Baumschule gefallen. Hunderte junger Fichten werden in diesem Feld gemeinsam aufgezogen. Dass er hier eigentlich nicht dazugehört fällt niemandem auf. Nach ein paar Wochen Übung sieht er sogar mal als erster einen neuen Schmetterling und gewinnt die Anerkennung der anderen Fichten neben ihm.

Auch der Fichtensame, der vom Wind nach Norden getragen wurde, keimte. Doch als er den Kopf aus der Erde strecken wollte, stiess er gegen etwas Hartes. Ein Stück Fels versperrte ihm den Weg. Also trieb er seine Wurzeln noch weiter in den Boden und vesuchte sich am Stein entlang weiterzudrücken. Nach langem streckte er endlich seinen Kopf aus der Felsspalte, in die er gefallen war, und fing die ersten Sonnenstrahlen auf. Er genoss die frische Luft und war ganz begierig darauf, grösser zu werden. Mit jedem Tag erweiterte sich sein Blickfeld und schon bald sah er über die umliegenden Felsen hinaus den Spitz einer anderen Fichte. „Hallo, hörst du mich, ich bin neu hier!“ schrie er mit seiner lautesten Stimme. Es kam keine Antwort.

In der Baumschule ist mächtig was los. Die jungen Fichten haben sich herausgeputzt, die Nadeln sind aufgestellt und, wer sich’s leisten kann, trägt eine Sonnenbrille. Nachdem der letzte Gärtner verschwunden ist, beginnt die Party. Der Catering-Service der Spatzenfamilie ist vollständig ausgelastet. Im Tiefflug bringen sie immer mehr Getränke und Knabbereien. Für die Musik wurden Eulen engagiert und gegen Mitternacht bringt ein alter Rabe kleine Pilze, mit denen die jungen Fichten endgültig die Fassung verlieren. Der Grund für die Ausgelassenheit ist das Gerücht, dass am nächsten Morgen die „Befreiung“ ansteht. Eine alte Buche am Rand der Baumschule hat die Fichten darauf aufmerksam gemacht, dass jedes Jahr um diese Zeit, die Gärtner die Fichten von ihren Wurzeln befreien. Dann würden sie auf einen irrsinnig schicken Laster geladen und in die grosse Stadt gefahren. Etwas besseres kann einer Fichte nicht passieren, oder?

Auch die Fichte im Norden ist zu einem kleinen Baum geworden. Mittlerweile hat sie sich auch mit dem Nachbarbaum angefreundet. Es ist eigenlich ein netter Kerl, nur etwas schwerhörig, da er in einer Gewitternacht von einem Blitz getroffen wurde. Mit dem ersten Schnee wird es für die junge Fichte ungemütlich. Im steilen Gelände drücken die Schneemassen mächtig an den Wurzelstock. „Oh Mann, ich halte das nicht mehr aus!“ stöhnt die junge Fichte. „Was hast du gesagt? Ich kann dich schlecht hören“, lautet die Antwort vom Nachbarbaum. „Ich werde vom Schnee erdrückt!“ schreit sie so laut, dass man es bis ins Tal hinunter hört. „Nur nicht ausrasten, das schaffst du schon“, sagt die alte Fichte nebenan und fährt fort: „Weisst du mit der Zeit wird dein Stamm unter dem Druck stärker wachsen und dann wird es nicht mehr so schlimm sein. Hast du übrigens die Häuser unten im Tal gesehen? Wenn wir den Schnee nicht zurückhalten, werden sie von Lawinen verschüttet.“

Das Abtrennen der Wurzel hat für einen kurzen Moment weh getan, aber die Fahrt mit dem Laster war cool. Jetzt steht die junge Fichte an einem Marktstand mitten in der Stadt. Direkt in ihrem Blickfeld sieht sie ein Werbeplakat, das ihr Herz zum hüpfen bringt. Dort ist auch eine Fichte abgebildet, aber diese Fichte hat’s echt geschafft. Sie trägt jede Menge „Bling Bling“: Rote und silberne Kugeln, rauschendes Lametta, angehängte süsse Lebkuchen, jede Menge echter Kerzen und zur Krönung zuoberst einen glänzenden goldenen Stern! Unsere junge Fichte wünscht sich von dem Moment an nichts sehnlicher, als auch einmal solch ein Baum zu werden. Und jetzt mal ehrlich: Reich sein und bewundert werden, wer würde sich das nicht auch wünschen?

Mittlerweile erträgt die junge Fichte im Lawinenschutzwald die drückende Last des Schnees schon etwas besser. Sie weiss, dass ohne ihren Einsatz, die Menschen im Tal vom Schnee getötet würden. Aber manchmal ist es halt doch ein bisschen langweilig und sie wünschte sich ein wenig Abwechslung. Kaum ist dieser Gedanke zu Ende gedacht, raschelt es im Gebüsch oben am Grat. Ein Reh stolpert mühsam durch den Schnee. Es sieht ausgehungert aus, und der Atem geht schwer. Mit letzter Kraft hüpft es an den geschützten Platz unterhalb der jungen Fichte und beginnt an den frischen Zweigen zu knabbern. „Hey das kitzelt“, sagt sie und denkt, dass sie sich die Abwechslung anders vorgestellt hätte. Nach der Mahlzeit lässt sich das Reh zu den Wurzeln der Fichte fallen und schläft sofort ein. Mit dem Eindunkeln kommt ein kühler Wind auf. Die junge Fichte breitet ihre tiefsten Äste deckend über das Reh und hofft, dass es die Nacht überstehen wird.

Immer wenn ein Kunde an den Marktstand mit den Weihnachtsbäumen kommt, werden die jungen Fichten ganz nervös. Die Stimmung ist wie an einer Castingshow des Fernsehens. Alle spreizen ihre Nadeln, schwellen die Brust und sagen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln: „Hol mich hier raus, ich bin ein Star!“ Als unsere Fichte endlich gekauft, in ein weisses Netz gesteckt und abtransportiert wird, jubelt sie, als wäre sie ein Sportler, der eine Goldmedaille gewinnt: „Ich kann meine Gefühle im Moment noch gar nicht beschreiben! Ich wusste, dass es eines Tages schaffen würde! Ich danke meinen Fans! Und an euch alle die es noch nicht geschafft haben: Verträume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum!“

Mit den ersten Sonnenstrahlen erwacht das Reh. „Guten Morgen, gut geschlafen?“ versucht die Fichte mit ihrer freundlichsten Stimme den Kontakt aufzunehmen. „Ja, danke! Gestern habe ich mich verlaufen und habe geglaubt, dass ich im Schnee erfrieren muss. Deine Zweige haben mir das Leben gerettet!“ Das freut die Fichte und lässt sie ihre abgenagten Zweige vergessen, die wachsen ja wieder nach. Die Beiden plaudern noch eine Weile miteinander und zum Abschied pinkelt das Reh an die Wurzeln des Baumes. Für uns Menschen wäre das eine Beleidigung, aber Bäume mögen das. Für sie ist guter Dünger eine Delikatesse, wie für uns zum Beispiel ein Schokoladen-Mousse.

Das mit dem geschmückt werden hat sich die junge Fichte lustiger vorgestellt. Aus pädagogischen Überlegungen entschied sich ihr Käufer, den Weihnachtsschmuck zusammen mit seinen Kindern an dem Baum zu befestigen. Die Kinder waren zu klein und zu ungeschickt, um das professionell und schmerzlos auszuführen. Einmal kippte der Baum sogar um, weil der Sohn der Familie alle Kerzen auf der selben Seite befestigte. Aber der demütigendste Moment für unsere Fichte kam mit dem Weihnachtsabend. Der Schmuck war einigermassen komplett und die Kerzen wurden angezündet. Doch anstatt sie als Star zu feiern, war die ganze Familie nur auf die Geschenke fixiert. Keiner beachtet ihren schönen Wuchs, die regelmässige Nadelverteilung und ihre gut trainierten Äste. Es ist ein harter Moment, wenn man realisiert, dass man die eigentlich nur die Dekoration ist.

In den Bergen scheint die Sonne. Und wie so oft an solchen Tagen fahren Menschen mit ihren Snowboards mitten durch die Fichten im Lawinenschutzwald. Die Bäume mögen die Snowboarder. Sie finden es spannend, wie sie durch den Schnee sausen und lachen herzlich wenn wieder mal einer stürzt und in einer Wolke von Pulverschnee versinkt. Jeder Baum hat so seine Favoriten und während die Boarder auf dem Skilift sind, schliessen die Bäume Wetten ab, wen es als nächstes erwischen wird. Aber heute geht etwas schief, eine junge Snowboarderin stürzt und fällt neben unserer Fichte die Felswand hinunter. Der Aufprall, die Schreie und wie die anderen Boarder mit ihren Mobiltelefonen die Rettungstruppen alarmieren – die Bäume verfolgen das Geschehen gespannt und hoffen, dass es ein gutes Ende nehmen wird.

Kurz nach Weihnachten wird der Fichte der ganze Schmuck schon wieder abgerissen. Sie wird am Schopf gepackt und hinter die Garage neben den Kompost gestellt. Als sie sich umblickt, erschrickt sie so stark, dass sie gut ein Viertel ihrer Nadeln fallen lässt. Neben ihr stehen drei Skelette, die sie mit finsteren Augen anstarren. Das zweite Viertel Nadeln verliert sie, als eines der Skelette mit dunkler Stimme zu reden anfängt: „Willkommen im Club! Wir sind die Tannenbäume der letzten Jahre.“ „Hört endlich auf mich zu erschrecken!“, sonst verliere ich noch den Rest meiner Nadeln!“ schreit ihm die Fichte entgegen, und fügt an: „Schliesslich will ich nicht so enden wie ihr.“ „Zu spät… wahrscheinlich hat es dir noch niemand gesagt, aber ohne Wurzeln wirst du keine Nahrung mehr erhalten und so wie wir langsam verdorren“, antwortet das Skelett. Die junge Fichte senkt den Kopf und als sie ihren abgesägten Fuss betrachtet, kullert eine dicke Träne über ihre Äste und versickert zwischen den abgefallenen Nadeln im Boden.

Nach kurzer Zeit trifft eine Rettungspatrouille ein. Es sind erfahrene Bergführer mit Rettungsgerät und Verbandszeug. Doch sie gelangen nicht direkt zur verunglückten Snowboarderin. Sie müssen sich abseilen. Ein Bergführer packt ein langes Seil aus und kommt mit kritischem Blick auf unsere Fichte zu. „Der will doch nicht etwa…“, doch bevor sie den Satz fertig machen kann, greift er prüfend an ihren Stamm und brummelt etwas von: „Doch, doch, das wird schon halten…“ Er knotet das Seil um ihren Wurzelstock und verschwindet hinter dem Felskamm. Als der Bergführer mit vollem Gewicht in das Seil liegt, um zur Verunglückten zu kommen, schreit die Fichte vor Schmerz auf. Das Reissen und Zerren ist kaum auszuhalten. Doch sie hält stand und die Snowboarderin kann geborgen werden. Die Nachricht von der mutigen Rettung durch die Fichte verbreitet sich schnell im Lawinenwald. Das muss gefeiert werden. Die Bergdohlen bringen Partysnacks und die Rehe kümmern sich um das Flüssige. Nach dem Eindunkeln sorgen Leuchtkäfer für die Effekt-Beleuchtung und die bekannte Eulenband spielt auf: „It’s a night to remember…“

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