Muss die Bibel neu geschrieben werden?
Das Institut für neutestamentliche Textforschung in Münster hat den ersten Band ihrer neuen kritischen Ausgabe des Urtextes des Neuen Testaments herausgegeben. Es handelt sich um die biblischen Bücher des Jakobus, Johannes, Petrus und Judas. Dieser erste Band umfasst mehr als 400 Seiten. Pro Bibelvers wird im Schnitt eine Seite für den Textkommentar verwendet. So gründlich und so fundiert wurde der Bibeltext noch nie unter die Lupe genommen. Mit modernsten Methoden werden Varianten und Abweichungen im überlieferten Bibeltext aufgespürt und bewertet.
Was wurde gefunden? Wo muss die Bibel neu geschrieben werden?
Im ersten Band des neuen Textes gibt es exakt 33 Abweichungen zum bisherigen Text. Nur eine davon hat eine Veränderung des Sinns zur Folge. Eine magere Ausbeute für ein so aufwändiges Projekt. Holger Strutwolf, der Leiter des Forschungsprojekts, sagt in einem Interview mit der Welt:
Dass es keine grundstürzenden Unterschiede gibt, weiss man auch erst, wenn man alle Handschriften gesehen hat. Insgesamt ist die Überlieferung der Bibel sehr gut und sehr treu. In den theologischen Punkten gibt es unter den Abertausenden Handschriften kaum Abweichungen.
Uns interessiert das „kaum“ im letzten Satz. Was ist sie denn nun, diese eine Abweichung, die Einfluss auf den Text-Sinn hat?
Judasbrief, Kapitel 5 „Ich will euch aber erinnern, obwohl ihr dies alles schon wisst, dass der Herr, nachdem er dem Volk das eine Mal aus Ägypten geholfen hatte, das andere Mal die umbrachte, die nicht glaubten.“ So stehts in der Lutherbibel und allen deutschen Übersetzungen, die ich gefunden habe (inklusive Volxbibel).
Neu steht nun nicht „der Herr“, sondern „Jesus“. Jesus hat also das Volk aus Ägypten geführt. So soll es nach dem aktuellsten Forschungsstand Judas ursprünglich geschrieben haben. Judas glaubte, dass Jesus schon vor seiner Geburt in Bethlehem existierte und auch schon zur Zeit des Auszuges von Israel aus Ägypten aktiv war. Zugegeben ein komplexer Gedanke, der einiges an Nachdenken über die Offenbarung Gottes als Einheit von Vater, Sohn und Geist erfordert. Verständlich, dass etliche Abschreiber der Bibeltexte das flüssigere und auf den ersten Blick einfachere Wort „Herr“ gewählt haben.
Spannend, dass es sich bei dieser Veränderung des Urtextes im Kern um eine Vertiefung des Gedankens von Judas handelt, nicht um eine Verfälschung.
Also muss dank neuester Forschung am uralten Text tatsächlich die Bibel neu geschrieben werden – aber nicht anders, nur besser!
Link zum Interview mit Holger Strutwolf in der Welt.
Videobeitrag zur Arbeit von Holger Strutwolf und seinem Team
Mehr zu diesem Thema gibt’s live am Sonntag, 15. März um 9.30h im Gottesdienst der EFG Bern.
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Bild: Papyrus P 72, 300-400 n. Chr. Beispielstelle. Für die exakte Stelle mit Judas 5, hier klicken: The Center for the Study of New Testament Manuskripts, Bodmer VII-VIII, Bibliothek des Vatikans
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